Beutezüge ins Reich der Totalamnesie

[Forays into the Realm of Total Amnesia]

for chamber orchestra

Kompositionsauftrag des Landes Niederösterreich

2016-17/ ~12'

beutezuege

Listen to the premiere performance

on April 24, 2017 by Ensemble Kontrapunkte and Peter Keuschnig (conductor) at the Gläserner Saal at the Musikverein Wien.

Besetzung: Fl, Ob, Klar.i.Bb, Fg, Hrn, Tr.i.Bb, Pos, Schlagw., vl1 (5), vl2 (4), vla (3), vlc (2), kb

Partitur: PDF

Die Beutezüge ins Reich der Totalamnesie nehmen ihren Ausgangspunkt in improvisierender Versunkenheit in den Augenblick. Und jeder Augenblick unserer heutigen Gegenwart blitzt auf im Zeitalter seiner datentechnischen Fassbarkeit.

Freie Improvisationen des Komponisten an der Klaviatur ohne Plan und Ziel wurden am Computer aufgezeichnet; jedoch nicht auf der Ebene des Klangs, sondern auf jener der Notation. Diese Notate freier Improvisationen ohne jegliche vorausgehende Überlegung zu Tonhöhe, Struktur oder Rhythmus bildeten den Ausgangspunkt der darauf folgenden kompositorischen Arbeit. Am Anfang dieses Neu-Zusammenstellens, des Schichtens, des Löschens und Veränderns stand also das Tun vielmehr als das Denken, das Handeln an Stelle des Planens.

In dem Strom distanzlosen Tuns, der immer auch einer des Vergessens ist, gelingt eine ebenso distanzlose Zugehörigkeit zum All der Dinge, zum allumfassenden Klang, der einen eben nicht nur umgibt, sondern umschwemmt; einen, distanz-, wehr- und willenlos, freudig überrumpelt. Nicht länger beobachtet man die Welt vom Ort hinter den Augen aus, sondern hat Teil am großen Ganzen und geht gemeinsam verloren in der Gemeinschaft der Hörenden.

Nichts wollen, nichts können und doch im eigenen Tun vermessen; vermessen von allgemeinen Maschinen, die sich für einen alles merken. Diese Auslagerung der Spiegelung eigenen Tuns in die Maschine ermöglicht die spätere Rückkehr in den vergangenen Augenblick, zu den selbst hinterlassenen Spuren und somit (späte) Distanz zu eigenem, distanzlosen Tun. In dieser eigentümlichen Sicherheit im Zeitalter des datentechnisch erfassten Augenblicks lässt man sich gerne treiben, denn Spuren hinterlässt man sowieso. An Ariadnes Faden trägt man nicht länger schwer und doch haftet allem eine Unzahl, ja ganze Netze dieser Fäden an und jede Position, jede Bewegung wird zumindest potentiell mitgeschrieben, noch besser gesagt: aufgezeichnet. In Rechenzentren an den unterschiedlichsten Orten der Welt schreiben Maschinen mit und schaffen so Spuren von ganz unterschiedlichen Formen menschlicher Aktivität. Und in unserem Tun offenbaren wir viel mehr als in dem, was wir über uns sagen oder denken.

Improvisiertes findet sich so als Notat am Computer, dieser im Alltag verschwindenden kognitiven Erweiterung, wieder und erlaubt so Bearbeitung, Wiederholung, Veränderung und Gegenüberstellung ganz unterschiedlicher Augenblicke, die eigentlich nie etwas von einander wollten oder wussten; nichts kannten außer sich selbst, und selbst davon kaum eine Ahnung hatten. Mit diesen aufgezeichneten Spuren, hinterlassen in völlig planlosem Tun an der Klaviatur, konnte der Komponist arbeiten, als wäre es gefundenes Material, objets trouvés, Lethe entrissen in eine Welt, der Vergessen nur mehr als medientechnischer Mangel erscheint.

Die Beutezüge ins Reich der Totalamnesie bauen also nicht auf kompositorische Konstruktion oder etablierte musikalische Form, sondern auf Reliquien performativer Akte, auf Spuren vergangenen Tuns im digitalen Schlamm des Vergehens auf. Sie entstanden aus dem Versuch heraus, sich vorbehaltlos auf den Augenblick eigenen musikalischen Tuns einzulassen. Das letztendliche Ergebnis dieser Selbstvergessenheit im Zeitalter der medientechnischen Fassbarkeit des Augenblicks ist das vor-digitale mediale Werkzeug der Partitur. Diese Partitur der Beutezüge enthält nicht nur die Anweisungen an die Musikerinnen und Musiker zur Produktion der gewünschten Klänge, sondern auch eine Einladung ans Publikum, sich rückhalt- und bedenkenlos im Augenblick zu verlieren.

Volkmar Klien, März 2017